Die Nachrichten aus Afghanistan beunruhigen uns aus sicherer Distanz – in Taufkirchen leben aber viele Menschen aus Afghanistan, deren Familienangehörige unmittelbar bedroht sind. Zu einem Gespräch lade ich Nasir S. ein, der auf die Frage, warum er geflohen ist, eine schlimme Geschichte erzählt. Seine Familie gehört zur Minderheit der Hazara, die überwiegend schiitischen Glaubens sind und von der Mehrheit der Paschtunen (Sunniten) diskriminiert und unterdrückt werden. Sein Vater lebte mit der Familie außerhalb von Kabul und hatte häufig Konflikte mit den Taliban. 2014, als Nasir 18 Jahre alt war und in Kabul wohnte, erfuhr er, dass sein Vater erschossen wurde und er als Ältester zum Schutze der Mutter und Geschwister kommen soll. Bekannte aus dem Dorf warnten ihn, dorthin zu gehen. Daraufhin floh er über Iran, Türkei nach Deutschland.
Als klar war, dass die Nato-Streitkräfte Afghanistan verlassen, gab die Mutter ihren und die Pässe der Kinder an einen Mitarbeiter der türkischen Botschaft und bezahlte ungefähr 2000€ um ein Visum und Flugticket in die Türkei zu bekommen. Eine Woche später war der Botschaftsangestellte verschwunden, mit ihm die Pässe und das Geld. Der Bruder von Nasir hatte Jura studiert und war kurz vor dem Examen, um als Rechtsanwalt zu arbeiten. Seit die Taliban regieren, sind die Universitäten geschlossen. Er sitzt mit der 14jährigen Schwester zu Hause. Die Familie hatte in Kabul ein kleines Geschäft für Textilien, Jeans und T-Shirts. Solche Kleidungsstücke sind nicht mehr erlaubt, deshalb musste alles ausgeräumt und entsorgt werden. Die Taliban erkennen Hazara an ihrem etwas anderen Aussehen und beschimpfen und drangsalieren sie deshalb. Z.B. werfen sie ihnen vor, keine richtigen Afghanen (Paschtunen) zu sein und deshalb sollten sie verschwinden. Ihnen Dokumente zu zeigen, ist sinnlos, weil die meisten Taliban nicht lesen und schreiben können.
Aber nicht nur Angst und Willkür herrschen in Kabul, auch große Not: Nasir steht vor der Abschlussprüfung zum Verkäufer, verdient deshalb wenig, schickt aber den größten Teil seines Lohnes an die Familie, die sonst nichts zu essen hätte.
Michael Schanz